Zerfall oder leuchtende Zukunft? Mitte Mai diskutierten bei einer Veranstaltung der VHS Vaterstetten in den Räumen der Musikschule Dr. Asfa-Wossen Asserate (Autor & Berater), Dr. Sebastian Brandis (Vorstand „Menschen für Menschen“) und Dr. Emnet Tadesse Woldegeorgis (Politikwissenschaftler, Bayreuth) über die Zukunft Äthiopiens. Geleitet wurde die Diskussion von unserem langjährigen Vorstandsmitglied Alexander Bestle, inzwischen Referent für Öffentlichkeitsarbeit des Deutsch-Äthiopischen Vereins. Die Wortbeiträge sind Zusammenfassungen, nicht wortwörtliche Zitate. Die ganze Diskussion gibt es im YouTube-Kanal der VHS Vaterstetten.
Über den Wandel durch den neuen Ministerpräsidenten Dr. Abiy Ahmed
Asserate: Ich hatte die Hoffnung, was Äthiopien anbetrifft schon aufgegeben. Das Land, das für die Afrikanische Union und für die Entkolonialisierung so viel getan hat, ist zum rassistischsten Land Afrikas geworden. Dem einzigen Land in dem in den Ausweisen das Wort Rasse drinsteht. So eine ethnische Föderation gab es in der Geschichte zuvor nur einmal: das Regime der Apartheit in Südafrika. Ich sage: Föderation: ja – ethnische Föderation: nein. Abiy hat das Thema offen angesprochen – mit großem Wohlwollen der äthiopischen Einheit gegenüber. Heute können wir das Wort Äthiopien wieder ohne Scham in den Mund nehmen. Das allein ist eine Erlösung. Die positivsten Entwicklungen seit Dr. Abiy im Amt ist, sind für mich: die Freilassung politischer Gefangener, die Rückkehr Hunderter oppositionelle Politiker nach 30, 40 Jahre aus dem Exil, die Versöhnung zwischen Äthiopien und Eritrea. Als ich den Ministerpräsidenten und den Präsidenten Hand in Hand in Asmara gesehen habe, habe ich angefangen zu weinen – einer der schönsten Momente in meinem Leben. Wir dürfen jedoch nicht an der Unabhängigkeit Eritreas rühren. Vorbild könnte die Idee Deutschlands vor dem Fall der Mauer sein: zwei unabhängige Staaten, eine Nation.
Brandis: Die Euphorie war bis ins letzte Dorf zu spüren. Die täglichen Enthüllungen über Korruptionsfälle haben unsere Mitarbeiter kaum mehr von den Rechnern wegkommen lassen. Das setzt Kräfte frei, die wir auch in der Projektarbeit spüren.
Emnet: Eine der wichtigsten Änderungen durch Dr. Abiy war der Versuch zu hören und zu verstehen, was das Volk sagt. Die Erweiterung des politischen Raumes durch Einladung der Opposition aus dem Exil, um am Prozess der Demokratisierung teilzuhaben. Dies auch bei einer wichtigen Reise nach USA zur Diaspora. Wir haben in Äthiopien ein sehr patriarchalisches System, aber jetzt sitzen im Kabinett 50 Prozent Frauen, wir haben eine Präsidentin, eine Oberste Richterin. Es gibt eine überwältigende positive Stimmung. Und über die Öffnung des politischen Raumes hinaus gibt es jetzt auch die Liberalisierung der Wirtschaft.
Über die Wahlen im nächsten Jahr
Asserate: Wenn es nach mir ginge, würde die Wahl im nächsten Jahr nicht stattfinden. Soll das wieder so eine Wahl wie die letzte sein? Wo zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit eine Regierung die Chuzpe hatte zu sagen, dass sie mit 100% der Stimmen gewählt wurde? Nicht mal Onkel Erich hat das so gemacht. Wann werden wir Äthiopier endlich einmal die Möglichkeit haben politisch zu denken? Eine politische Partei zu haben, die nicht auf Ethnie basiert? Wann werden wir äthiopische Sozialdemokraten, Kommunisten, Kaisertreue, Konservative zu sehen bekommen? Kann sich denn ein Kommunist aus Amhara nicht mit einem Kommunisten aus Oromia oder Tigray unterhalten? Kenia ist hingegen ein glückliches Land: Parteien, die ethnisch oder religiös gebunden sind, dürfen hier nicht operieren. Noch glücklicher ist Namibia: Offizielle dürfen den Bürger nicht nach seiner Ethnie fragen. Die Wahlen kämen zu früh, erst muss die Verfassung reformiert werden – sonst bleibt alles so wie es ist.
Brandis: Nach der Euphorie herrscht jetzt Apathie – es ist unklar wie es weitergeht. Die große Gefahr: Das was Abiy alles versprochen hat, konnte er gar nicht in der Zeit liefern. Nun werden die Grenzen zu Eritrea wieder geschlossen, die Korruptionsbekämpfung dauert länger, ethnischen Konflikte kochen hoch, das Prestigeprojekt GERD ist gestoppt, es gibt vor allem auf Seiten der Oromo eine riesige Erwartung. Wie schifft Abiy da durch? Die Wahl wäre derzeit fatal – denn sie basiert auf einer vollkommen unklaren Situation.
Emnet: Es geht nicht um die Frage, ob wir Wahlen haben oder nicht, sondern darum ob wir ein förderliches Umfeld für demokratische Wahlen haben. Die institutionellen Rahmenbedingungen, die zu den bisherigen Wahlergebissen geführt haben, existieren noch. Erwarten wir bei denselben Rahmenbedingungen zum Schluss eine demokratische Wahl? Es gibt derzeit intensive Bestrebungen aller Parteien, die Wahlprozesse, den nationalen Wahlvorstand und die dazugehörigen Gesetze zu ändern. Von dem Erfolg dieser Vorbereitungen hängt viel ab. Die ganze Gesellschaft ist im Moment entlang ethnischer Grenzen polarisiert. Die Einladung der unterschiedlichen Medien nach Äthiopien zu kommen hatte auch eine ungewollte Nebenwirkung: sie tragen auch zur Polarisierung der Bevölkerung bei. In diesem Umfeld Wahlen zu veranstalten könnte ein katastrophales Ergebnis haben.
Über die negativen Strömungen und einen drohenden Zerfall Äthiopiens
Asserate: Ich kann nur hoffen, dass mein Äthiopien auch weiterhin existieren wird, aber wir haben in den letzten 30 Jahren alles getan, dass das nicht der Fall sein wird. Davor habe ich die größte Angst – genauso wie vor einem Jahr. Das sind die Geister, die wir vor 30 Jahren gerufen haben. In einem Land mit 120 verschiedenen Ethnien und 84 unterschiedlichen Sprachen darf Ethnizität nicht die politische Bedeutung haben, die sie in Äthiopien besitzt. Ich möchte nicht, dass nur die kleinste äthiopische Ethnie nicht bedacht wird – im kulturellen Sinne. Das ist unser Stolz als Äthiopier – wir sind ein buntes Land. Wir sind und waren nie ein homogenes Land, sondern ein farbenfrohes, heteronationales Land. Und das will ich auch weiterhin so. Wenn es uns nicht gelingt administrative Grenzen zu haben ohne Berücksichtigung der Ethnie, dann wird in Zukunft die Hölle los sein. Wir werden Kriege haben wie nie zuvor und das ist der Untergang Äthiopiens oder vielleicht auch Afrikas. Wir dürfen nicht vergessen, wie der Kolonialismus nach Afrika kam. Es war die Ethnizität, die den Kolonialismus nach Afrika gebracht hat. Die Kolonialherren sind nach Afrika gekommen und haben gesagt: Dein Nachbar ist doch dein Feind, gehört einer ganz anderen Ethnie an – hier hast du Waffen, kämpf gegen ihn! Warum haben die afrikanischen Staaten dann aber 1963 trotzdem den kolonialen Grenzziehungen zugestimmt? Sie haben damals schon gewusst: Der Tribalismus ist die Achillesverse Afrikas. Es gab damals die Hoffnung, wenn wir zu Beginn nationale Identitäten einnehmen würden, eines Tages auch eine panafrikanische Identität funktionieren würde. Eine kleine Anekdote aus der Schulzeit: Es gab ein Spiel, da wurde gefragt: „Woher kommst du?“ – „Ich bin Äthiopier.“ – Bähm, falsche Antwort. Was hätte er sagen müssen? „Ich bin Afrikaner.“ Wir waren mal soweit. Ich habe meine ganze Jugend lang die ethnische Zugehörigkeit meiner ganzen Freunde nicht gekannt. Davon habe ich erste 1991 erfahren. Wir waren alle Äthiopier. Nur wenn wir die Ethnisierung wegwerfen und neu starten haben wir eine Zukunft.
Brandis: Als „Menschen für Menschen“ wagen wir bewusst keine Prognose wie es weitergeht. Wir bekommen die ethnischen Konflikte jeden Tag hautnah zu spüren. Wir haben auch unter dem Militärregime gearbeitet und wir wurden immer gefragt, warum? Für mich ist Antwort ganz klar: Man kann nichts besseres tun als die Zivilgesellschaft vor Ort zu stützen, um sie irgendwann in die Lage zu bringen tatsächlich ihre eigene Regierung zu wählen. Aus der Subsistenzwirtschaft heraus irgendwann ein selbstbestimmtes Leben zu leben – darum geht es. Wir haben drei Projektregionen in der Nähe des südsudanesischen Grenze und wir konnten die letzten sechs Monate de Facto dort nicht arbeiten. Wir mussten die Teams abziehen. Nicht weil die politische Führung vor Ort nicht gewollt hätte. Es waren randalierende Banden von Jugendlichen, die von ausländischen Führen Waffen und Geld bekommen. 25- bis 30-Jährige, arbeitslose Jugendliche, die ausgebildet wurden, die lesen und schreiben können und nichts zu tun haben. Und Zeit haben darüber nachzudenken, was sie Dummes tun können und sich dann gegenseitig die Köpfe einschlagen. Wenn dann noch jemand kommt und sagt „Hier hast du eine Waffe“, dann ist das Desaster vorprogrammiert. Als Organisation haben wir schon immer ethnisch und religiös neutral gearbeitet – jetzt haben wir das Problem, das wir Mitarbeiter verloren haben, weil sie als Tigray in Oromia nicht mehr arbeiten konnten. Das sind kleine Anzeichen dessen, wie sich das Szenario entwickeln könnte. Ich glaube, dass es aber immer noch eine große Mehrheit gibt, die hofft, dass die Ethnizität nicht diese Rolle spielt. Wir müssen dieses Rückgrat stützen.
Emnet: Die TPLF hat über die letzten 30 Jahre eine führende Rolle beim Bau der EPRDF (Ethiopian People‘s Revolutionary Democratic Front) gespielt – in dieser Zeit hat die TPLF auch mit anderen Parteien zusammengearbeitet, die auch andere Ethnien repräsentierten. Im momentanen Wandel wird aber vor allem die TPLF für das verantwortlich gemacht, was passiert ist. Und die alten Führer werden vom derzeitigen Wandel an den Rand gedrängt. Die gehen nun zurück nach Tigray, um sich zu restrukturieren und zu reflektieren. Das Szenario einer Balkanisierung Äthiopiens halte ich für eine Übertreibung, wenn man die Geschichte Äthiopiens ansieht. Diese ethnisch fundierte Politik ist ein junges Phänomen. Äthiopien hat eine über 1000-jährige Geschichte, in der der Staat mit viel größeren Problemen konfrontiert war als heute. Es ist noch zu früh, um beurteilen zu können, ob Äthiopien auseinanderfällt. Ich denke, dass das kaum passieren wird. Wie haben mehr Dinge gemeinsam als die die uns trennen. Wenn die Regierung Abiy diese Probleme richtig angreift und auch eine neue Verfassung entwickelt, dann könnte ich mir durchaus eine leuchtende Zukunft vorstellen. Aber auch unabhängig vom Ausgang der nächsten Wahl bin ich der Meinung, dass und ein nächstes Ruanda droht.
Über den Streit um Addis Abeba
Emnet: Die wichtigste Frage in Sachen Hauptstadt ist nicht der Name. Es geht nicht darum, ob sie Addis Abeba oder Finefine genannt wird oder beides. Das Problem ist, dass Addis komplett vom Bundesstaat Oromia umgeben ist, Addis aber eine der schnellsten wachsenden Städte der Welt ist. Wenn Addis expandiert, müssen Menschen umgesiedelt werden. Manchmal werden diese Bauern nicht ausreichend kompensiert – die Menschen und ihre Familien leider darunter sehr. Diese Menschen sind meist aus Oromia. Das ist ein Fakt. Ein anderer Fakt ist, dass Addis Abeba allen Einwohnern gehört. Addis Abeba gehört keiner ethnischen Gruppe allein, sie ist eine multiethnische Gesellschaft – und das von Beginn an. Addis ist außerdem die diplomatische Hauptstadt ganz Afrikas. Darüber hinaus gibt es durch die Verfassung und andere Gesetze das explizite Recht der Einwohner von Addis ihre eigenen Vertreter zu wählen. Ausgehend von all diesen Fakten versuchen nun verschiedene politische Gruppierungen entlang ethnischer Struktur ihre Unterstützer zu mobilisieren. Die Oromo-Aktivisten zum Beispiel versuchen diese Themen für ihre eigenen politischen Ziele zu nutzen. Es gibt aber auch andere politische Strömungen, die die Klagen der Bevölkerung ausnutzen. Aber das ändert die Fakten nicht. Meiner Meinung nach wäre es kein Problem, wenn die Stadt zwei Namen hätte, wenn die Regierung sich um die Probleme kümmert, die ich vorher genannt habe. Wenn das geschieht ist der Name kein großes Thema mehr.
Was ist Finfine?
Asserate: Finfine ist eine kleine Badestätte, die im 19. Jahrhundert gefunden wurde. Es gab heiße Quellen und Königin Taitu hat das sehr geliebt, weil sie Probleme mit Arthritis hatte. Da hat sie ein Häuschen bauen lassen und dann noch ein größeres Häuschen und so ist dann Addis Abeba entstanden. Was nicht bedeutet, dass es vorher nicht schon eine kleinere, oder vielleicht sogar größere Stadt gegeben hat. In der Region Entoto wurden mehrere in Stein gehauene Kirchen gefunden. Die sind aus dem 16 Jahrhundert. Es ist nicht so, dass Addis Abeba irgendwo oder von irgendwem alleine gegründet wurde. Addis gehört dem äthiopischen Volk. Es gibt keine ethnische Gruppierung, die sagen kann und sagen darf Addis Abeba gehört mir allein. Addis Abeba ist die Mutter von uns allen. Addis sollten ein Prototyp des Vielvölkerstaates Äthiopien sein.
Über die Wirtschaft und deutsche Investitionen
Asserate: Ja, ich würde einem deutschen Unternehmer derzeit raten in Äthiopien zu investieren. Ich tue es und ich habe es auch in all den Jahren getan. Weil ich weiß, wenn ich Unternehmer dazu bringen könnte für 1000 Menschen in Äthiopien Arbeit zu bringen, dann können 10.000 Äthiopier dreimal am Tag essen. Ich habe das auch während Meles Zenawi versucht – habe damit aber keinen Erfolg gehabt. Ich glaube die Konditionen waren noch nie so gut wie jetzt. Äthiopien gehört jetzt zu den Ländern, die eine Hermesdeckung haben können. Äthiopien gehört zu den Ländern des Compact mit Afrika. Also eine sehr präferierte Situation innerhalb der Bundesregierung. Das sind alles gute Zeichen, aber auch jetzt kommen keine Investoren nach Äthiopien. Manchmal habe ich Angst wie es eigentlich um das deutsche Unternehmertum bestellt ist. Wenn ich mich an die vorherige Generation der deutschen Investoren erinnere: Die sind mit nichts dahin gekommen und haben ganze große Institutionen aufgebaut. Und jetzt sind wir so weit, dass nicht mal eine Hermes-Deckung reicht. „Hören Sie mal zu, das sind 75%, was soll ich denn mit den 25 % machen?“ „Sie sind doch Unternehmer, sie wissen doch was dazugehört!“ Man muss doch auch ein Restrisiko tragen – wir können nicht warten bis wir 100% Deckung haben. Ja, die Chinesen haben 100%ige Sicherheit, das ist wahr. Im Moment arbeiten 15.000 chinesische Firmen in Afrika – Deutschland hingegen hat 420.000 global agierende Unternehmen – 1000 davon sind in Afrika. 100% Deckung, da kann unser deutscher Mittelstand nicht mithalten. Aber die zu bekommen ist auch Wunschdenken – die deutsche Regierung wir einem deutschen Unternehmer nie eine 100%ige Bürgschaft geben. Wir müssen unseren deutschen Partner auch mal sagen: „Kinder, lasst 2 und 2 fünf sein und kommt nach Äthiopien.“ Die haben was davon und wir haben auch etwas davon. Das ist der einzige Weg wie wir die unglaubliche Jugendarbeitslosigkeit in Äthiopien beseitigen können.
Brandis: Exportorientierte Geschäftsmodelle bergen die Gefahr, dass man Dinge aus dem Land heraustreibt, die eigentlich gebraucht werden. Bei unserem neusten Projekt mit Dallmayr haben wir einen Deal gemacht: Die Kaffee-Kooperative soll erst den lokalen Markt bedienen bis dieser gesättigt ist – dann kann exportiert werden. Durch den Einsatz von Experten kann die Produktivität beim Kaffee um das Dreifach gesteigert werden. Wir als NGO haben immer den sozialen Blick – es gibt aber auch viele Unternehmer, denen man das überzeugend rüberbringen kann. Eine generelle Hürde ist aber das Afrikabild, das viele haben. Angst, Nicht-Kennen, kolonialer Blick. Wir als „Menschen für Menschen“ sind da Brückenbauer. Wir gehen als leuchtendes Beispiel voran – auch um viele Nachahmer zu finden. Es gibt aber auch so schlechte unternehmerische Vorbilder, die einfach die Zuschüsse genommen haben und abgehauen sind. Für uns geht es darum Modelle zu finden, nach Märkten zu suchen und Win-Win-Situationen zu erzeugen – nicht nur um die Optimierung der Rendite. Für die Äthiopier ist es schon ein Hemmschuh in Land zu investieren, das einem nicht gehört. Größere Problem für Ausländer ist die Tradeability und Foreign Exchange.
Emnet: Wir müssen da starten, wo wir einen Wettbewerbsvorteil haben und das ist die Bevölkerung. Laut UNDP sind in Äthiopien 70 Prozent jünger als 30 Jahre. Als Regierung musst du einen Weg finden, wie du diese Leute in Arbeit bringst. Sie muss den Produktionssektor vergrößern. Unternehmertum ist in Äthiopien quasi nicht vorhanden. Deshalb hat man mit dem „Entwicklungsstaat“ (development state) angefangen – das soll bedeuten, dass der Staat die Verantwortung für den Entwicklungsprozess übernimmt. Deshalb hat er auch in den letzten 20 Jahren so viel für Infrastruktur ausgegeben und so viel Arbeiter eingestellt. Das ist ein Grund für das ökonomische Wunder – das Wachstum. Aber der private Sektor ist immer noch extrem niedrig. Jetzt baut die Regierung die Industrieparks, um Investoren aus dem Ausland anzuziehen. Noch hat die Regierung nicht die Möglichkeit Mindestlohn einzuführen. Es geht im Moment darum jeden Investor zu bekommen, um die Bevölkerung in Arbeit zu bringen. Wenn man den Textilsektor (eine Studie hat kürzlich ergeben, dass in Äthiopien weltweit die niedrigsten Löhne in der Textilbranche gezahlt werden – Anm. der Redaktion) aber mit anderen Sektoren in Äthiopien vergleicht, wird hier noch gut gezahlt. Im internationalen Vergleich sind die Löhne natürlich niedrig. Da muss die Regierung in Zukunft ran.
Über Bildung
Emnet: Wichtig ist aber auch das Investment in höhere Bildung. Arme Länder ohne Ressourcen müssen in ihre Menschen investieren. 30 neue Universtäten im Land – eine Abdeckung von 3 auf 15 Prozent – natürlich gibt es ein Qualitätsproblem. Es ist noch nicht genug, aber wir sind auf dem richtigen Weg. Das Vorbild für die höhere Bildung ist die USA. Deutschland hingegen das Vorbild für die technischen Universitäten und vor allem die technischen Berufsschulen. Für ein endgültiges Urteil ist es aber hier zu früh.
Asserate: Es ist sehr zu begrüßen, dass Äthiopien über 20 Unis hat – ich frage mich nur: Was machen wir denn mit den ganzen Leuten, die ein Universitätsabschluss haben? Bei meinem letzten Besuch in Addis hat eine junge Frau meine Betten gemacht, die phantastisches Englisch sprach. Sie hatte einen guten Uni-Abschluss. Wir sind nicht mal in der Lage die fünf Prozent, die einen Uniabschluss haben, in Lohn und Brot zu bringen. Wir sind schon längst dabei ein akademisches Proletariat aufzubauen. Das ist unser Hauptproblem. Ich bin ein großer Freund der deutschen dualen Ausbildung. Das funktioniert aber nur dann, wenn wir Firmen haben, die die Leute ausbilden. Das ist noch nicht ganz reif.
Brandis: Deshalb machen auch wir jetzt immer mehr in TVET und „job creation“ – immer ist der Gedanke der dualen Ausbildung dahinter. Doch in fast keiner Region gibt es ausreichend Firmen, die ausbilden oder einstellen könnten. Deshalb ist bei uns immer ein großer Teil das Thema Entrepreneurship – dass sich die Absolventen hinterher selbständig machen. Noch mein Kommentar zum Thema Mindestlohn: Unsere Botschafterin Sara Nuru mach derzeit die „H&M conscious“-Kampagne. Die Kleidung hierfür wird in Awassa produziert. Sie war sehr skeptisch und hat sich vorher die Produktionsbedingungen direkt vor Ort angesehen und für gut befunden.
Über Entwicklungszusammenarbeit
Brandis: Wir können nur der Teil eines Systems sein, und zum Beispiel Brücken bauen zwischen Unternehmern. Die betonen die Rendite, wir die soziale Gerechtigkeit. Hinzu kommt staatliche Unterstützung. Wir sind ein Teil des Puzzles. Es geht um die Auflösung von Blockaden im Kopf und die Romantisierung der Arbeit. Wir müssen neue Modelle finden, wie die unterschiedlichen Welten zusammenarbeiten. Wir schaffen es nicht alleine – wir brauchen auch das unternehmerische Know-how.
Asserate: Eine Grundvoraussetzung für Entwicklung ist „good governance“ – gute Regierungsführung. Diesen Punkt haben wir über die letzten 50 Jahren links liegen gelassen. Im Kalten Krieg hatte jede Seite ihre Lieblingsdiktatoren. Die schönste Zeit für Afrika war kurz nach dem Fall der Mauer, mit viel Hoffnung und eigenen Initiativen. Nach 9/11 alles vorbei – wieder sind Menschenschänder Alliierte im Kampf gegen den Terror. Es ist widerlich. Gute Regierungsführung sollte „conditio sine qua non“ sein – aber da kann die Bundesregierung keinen Alleingang machen. Es muss eine gemeinsame europäische Afrikapolitik geben. Nur so können wir Gewaltherrschern Paroli bieten und zu Parias machen. Wo gehen sie dann hin? Zu China? China ist überhaupt nicht bereit den Staaten Entwicklungshilfe zu geben. Du gibst mir dein Coltan, ich geb dir Geld. Du gibst mir dein Öl, ich geb dir Geld. Die Rolle Europas, als größter Entwicklungshelfer der Welt, wollen die Chinesen nicht.
Emnet: Natürlich arbeiten auch private Organisationen an den Universitäten zum Thema Entrepreneurship – und „good governance“. Westliche Geldgeber und Charities geben hier Geld für Forschung aus. Sie beraten Regierungen. Meist kommen sie nicht selbst, um die afrikanischen Regierungen zu „bossen“, sondern sie sie finanzieren Forscher und Forschung. Auch in Äthiopien kommt das vor. Das große Problem in Afrika ist aber der Antagonismus zwischen Regierung und akademischer Community. Denn die Akademiker sind meist die Kritiker einer undemokratischen Regierung. Deshalb werden die Ratschläge der Universitäten immer mit großer Skepsis aufgenommen. Im Staat gibt es Beratungsgremien und Kommissionen für unterschiedliche Themen. Die einen Überblick erarbeiten und Ratschläge geben. Möglich, dass diese dann gar nicht das eigentliche Problem adressieren. Der private Bereich interveniert in diesen Sektor praktische nur über Finanzierung für Forschung. Aber Forschung nur für die Forschung allein macht keinen Sinn. Die Forschung muss über Richtlinien der Politik zur Praxis gemacht werden. Das ist dann Aufgabe der Regierung. Wenn es kein Vertrauen zwischen dem akademischen Bereich und der Regierung gibt, dann ist das eine vergebene Chance. Es gibt derzeit genug Forschung an den afrikanischen Universitäten, aber keiner nimmt sie ernst. Weil die akademischen Institutionen und die Professoren als Bedrohung für die Regierung angesehen werden. Weil sie die Sprachrohre sind, wenn die Staaten undemokratisch handeln.
Über Menschenrechte
Asserate: Es gibt etwas sehr Erfreuliches in diesem Zusammenhang, das in Afrika im Jahre 2013 geschehen ist. Zum 50. Geburtstag der Afrikanischen Union hat sie eine „Agenda 2063 – the Africa we want“ herausgebracht. Fast jedes afrikanische Land hat diese Agenda ratifiziert. Jetzt können diese Staaten nicht mehr sagen: Ihr bösen Europäer das ist eurozentrisch, was ihr uns hier gesagt habt. Das sind jetzt Gedanken von Afrikanern. Das sind afrikanische Werte. Diese Agenda ist ein brillantes Stück. Es wäre jetzt eine wunderbare Gelegenheit der Europäer zu sagen: Das habt ihr wunderbar gemacht, wir werden uns bei unserer Außenpolitik genau daranhalten. Und so lange ihr euch daranhaltet, habt ihr uns als Freunde und Partner. Die Europäer hätten nichts zu verlieren und die Afrikaner könnten nicht mehr sagen „Ihr redet immer von Menschenrechten, was sollen denn Menschenrechte für Afrikaner sein“. Als wären Menschenrechte nicht universell.
Über den Einfluss der orthodoxen Kirche
Asserate: Als äthiopischer orthodoxer Christ bin ich erst mal sehr dankbar, dass wir seit ca. einem Jahr wieder eine Synode haben. Ich habe aber ein Problem mit der Orthodoxie in der ganzen Welt: alle orthodoxen Kirchen dieser Welt sind nationale Kirchen. Das verleitet die Kirchen dazu nach dem Motto zu leben: „Jeder Mann meiner Mutter ist mein Vater.“ Das heißt, egal welche Regierung kommt, ob ein Kaiser, ein Militärdiktator oder ein anderer Diktator, die Kirche steht immer auf der Seite der Regierung. Das wird eines Tages das Ende der äthiopisch-orthodoxen Kirche sein, wenn sie so weitermacht. Es steht zwar in der Verfassung, dass Staat und Kirche getrennt sind. Wenn ich mir aber die letzten 20 Jahre anschauen, wie eng die äthiopisch-orthodoxe Kirche hier mit der äthiopischen Regierung zusammengearbeitet hat – ebenso unter Mengistu und unter dem Kaiser. Das ist schändlich für eine Organisation, die sich christlich nennt. Die Kirche sollte immer auf Seite der unterdrückten Menschen sein, der Hungernden, der Entrechteten. Ich hoffe, dass die äthiopische Kirche und alle anderen orthodoxen Kirchen dieser Welt das kapieren und endlich mal sagen: Ich kenne nur zwei Autoritäten an – als Ministerpräsidenten Paulus als Präsidenten Jesus Christus.
Brandis: Ich finde es so phänomenal in Äthiopien, besonders auf dem Land, dass hier die Harmonie der verschiedenen Gemeinden, ob orthodox oder muslimisch, seit Jahrhunderten gelebt wird. Nicht eine Kirche übernimmt die Führung, sondern man versucht weder ethnisch, noch religiös zu differenzieren. Die verschiedenen Kirchen kämpfen gemeinsam für den Menschen. Jetzt passiert es zum ersten Mal, dass sich der IS über El-Shabab in verschiedenen Dörfern einkauft. Dass zum ersten Mal Frauen verschleiert herumlaufen. Das fängt jetzt an. Man muss jetzt die bestehende Harmonie und die Einheit zu fördern – das ist eine große Chance. Und ein Vorbild für viele anderen Länder.
Über eine neue Identität für Äthiopiens Jugend
Emnet: Es ist schwer den arabischen Frühling mit Äthiopien zu vergleichen. Dort gab es eine große Verbindung der jungen Menschen durch den Islam. Seit 1991 ist die Ethnizität der wichtigste Part der Identitätsstiftung. In der Schule, in den Medien, im alltäglichen Leben. Jetzt sehen wir was dabei herauskommt. Haben wir immer noch eine äthiopische Identität? Ja! Ist sie noch so stark wie vor 1991? Nein! Die Regierung Abiy versucht dieses Thema zu adressieren, um eine Balance zu finden. Kulturelle Identität ist wichtig – aber sie sollte nicht politisiert werden. Aus der kulturellen Identität sollte eine nationale Identität kreiert werden.
Über den Wandel in Eritrea
Asserate: Ich möchte als Äthiopien diese Frage nicht beantworten – das ist eine Frage der Eritreer. Alls was ich als Äthiopier sage, würde so oder so falsch interpretiert werden. Ich bin glücklich, dass dieser widerliche Krieg zwischen Äthiopien und Eritrea zu Ende geht, dass wir wieder wie Brüder und Schwestern leben können.
Emnet: Sehr schwer diese Frage zu beantworten. Die Beziehung der beiden Völker war nie das Problem. Es war ein Gegensatz der beiden Regierungen.
Über den Ursprung der ethnischen Konfrontationen
Asserate: Es gab ethnische Probleme in der Kaiserzeit. Im Zuge der Zentralisierung wurde alles getan, dass Äthiopien ein Zentralstaat wurde. Das war falsch. Äthiopien hätte schon damals ein föderalistischer Staat sein sollen. Der größte Fehler der kaiserlichen Regierung war die Föderation mit Eritrea 1962 zu brechen. Ganz im Gegenteil: Wir hätte die Erfahrungen aus Eritrea in die anderen Provinzen einleiten sollen. Daran ist das Kaiserreich kaputt gegangen. Von der Unterdrückung irgendwelcher Völkerschaften durch das Kaiserreich kann man jedoch nicht reden. Wenn man die Minister und Generalität ansieht: Es waren nicht nur die Amharen. Dass Amharisch als Sprache eine sehr große Rolle gespielt, ist absolut richtig. Wir haben über 2000 Sprachen in Afrika, aber nur eine einzige Schriftsprache: Amahrisch. Wir waren mal so weit, dass das die nationale Sprache Afrikas sein sollte. Nkrumah hat das 1961 vorgeschlagen. Das bedeutet nicht, dass es in Äthiopien nur eine Sprache geben könnte – Beispiel Schweiz, das nicht mal so viele Einwohner hat wie Addis Abeba – die haben vier Hauptsprachen. Ich bin dafür dass es in Äthiopien auch in Zukunft gleichwertige Sprachen gibt – aber Amharisch muss die „lingua franca“ bleiben, um die Einheit dieser Völker zu erhalten. Das ist meine Meinung – natürlich muss das Volk entscheiden. In Äthiopien soll in Zukunft nichts geschehen, ohne den Willen des äthiopischen Volkes. Dafür kämpfe ich seit 45 Jahren. Ich war übrigens einer der ersten der in Äthiopien über ein föderales System für Äthiopien gesprochen hat. Lange bevor es eine EPRDF gab. Meine Zukunft für Äthiopien in einem Satz: Einheit in Verschiedenheit – Verschiedenheit in Einheit. Das ist die Lösung.